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   „Nachdem er aber die
  Macht erhalten hatte, legte er die ruhige Art ab, die er als Bub an sich
  gehabt hatte, führte ein bewaffnetes Heer nach Italien, und nachdem er dort
  einige Städte eingenommen und sie unter Besatzung gestellt hatte, kehrte er
  selbst nach Franken zurück.“ 
  Widukind von
  Corvey, Chronist. 
   
  Wenn Historiker über mittelalterliche
  Geschichte schreiben, bekommen sie oft Probleme mit den erzählenden Quellen,
  in denen nichts von dem diskutiert wird, was uns heute wichtig ist: sozialpolitische
  Probleme, wirtschaftliche Interessen, verfassungsrechtliche Fragen,
  geopolitische Strategien. Sie wundern sich, dass die Chronisten von
  feierlichen Vertragsschlüssen berichten, aber nichts über ihren Inhalt sagen,
  oft auch nichts über den Inhalt von Verhandlungen, Beschuldigungen und
  Anklagen erzählen. Statt sachliche Informationen zu liefern, berichten sie
  über Liebe, Hass und Neid der Mächtigen, über ihre Tatkraft, Klugheit,
  Mäßigung, Milde und Beständigkeit, und stellen Ehre und Treue als
  Handlungsmotive in den Vordergrund. 
   
  In diesem  Essay wird vorgeführt, dass in
  einer Welt, in der nicht Institutionen, sondern persönliche Beziehungen die
  Politik bestimmten, scheinbar private Emotionen und persönliche Eigenschaften
  tatsächlich ausschlaggebend für das politische Handeln waren. Doch hatten
  Begriffe wie Liebe, Ehre und Treue eine andere Bedeutung als heute. Liebe ist
  in diesem Kontext kein privates Gefühl, sondern bezeichnet eine politische
  Beziehung: Die Völker, glaubte man, würden entweder durch Liebe oder durch
  Furcht zusammengehalten. In einem Gespräch mit Karl dem Großen beschreibt
  sein Berater Alkwin Liebe als „gutwilligen Dienst“ und „gewissenhafte
  Achtung“ den Blutsverwandten und dem Vaterland gegenüber. Ihre Alternative war
  Gewalt. Rat und Vermittlung waren die politischen Instrumente, von Gewalt
  abzuraten und Liebe wiederherzustellen. 
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  Fantasievolle Darstellung
  Liudolfs. Illustration in der „Chronik der Sachsen und Thüringer“ (sog. Spalatin-Chronik) aus der Schule von Lucas Cranach. 
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